1000 Menschen mehr in der Erstaufnahme in nur drei Monaten
Schwerwiegendste Änderung der Flüchtlings- und Integrationspolitik des Landes der letzten Jahre
Flüchtlingsrat beklagt „staatlich organisierte Desintegrationspolitik“
Politische Entscheidung angemahnt
28.11.2019 – In nur drei Monaten ist die Zahl der in der Hessischen Erstaufnahme untergebrachten Flüchtlinge um 1.000 Menschen angestiegen – und dies, obgleich die Zahl der Asylsuchenden weiterhin stark rückläufig ist. Hintergrund ist, dass die meisten der neu ankommenden Flüchtlinge in Hessen seit einer Gesetzesänderung im August nicht mehr auf die Kommunen verteilt werden, auch wenn es weiterhin rechtlich die Möglichkeit dazu gäbe. Damit steht die aktuelle Verwaltungspraxis auch in krassem Widerspruch zu dem Koalitionsvertrag der schwarz-grünen Landesregierung, in dem es heißt: Unser Ziel ist, dass die Dauer des Verbleibs in der Erstaufnahmeeinrichtung nicht mehr vom Herkunftsland oder der Bleibeperspektive der Flüchtlinge abhängig ist, sondern eine möglichst schnelle Verteilung auf die Kommunen gewährleistet ist (S. 125 des Koalitionsvertrages).
„Die integrationspolitisch vernünftigen Ansätze, die im Koalitionsvertrag verabredet wurden, werden durch die neuen Entwicklungen vollständig konterkariert. 1.000 Menschen mehr im Großlager heißt auch 1.000 Mal keine Integrationsmöglichkeiten für die Betroffenen“, kommentierte Timmo Scherenberg, Geschäftsführer des Hessischen Flüchtlingsrates, die neue Praxis. „Das ist staatliche organisierte Desintegrationspolitik“.
Statt die neu ankommenden Flüchtlinge schnell auf die Kommunen zu verteilen, werden sie jetzt bis zu 18 Monaten in der Erstaufnahme gehalten, ehe eine Verteilung stattfindet. Ob und nach welchen Kriterien Personen schon vor Ablauf der 18 Monate verteilt werden, ist bislang nicht öffentlich kommuniziert worden. Fest steht bislang lediglich, dass seit gut drei Monaten fast keine Flüchtlinge mehr in den Kommunen aus der Erstaufnahme ankommen und dass die Belegung der Erstaufnahme von 1.602 Personen (Stand 21.08., Tag des Inkrafttretens der Neuregelungen) auf 2.635 Personen (Stand 26.11.) angestiegen ist. Im Gesetz ist eine vorzeitige Entlassung aus der Erstaufnahme verpflichtend vorgesehen im Fall einer Anerkennung durch das Bundesamt und bei Familien mit minderjährigen Kindern, die schon nach sechs Monaten verteilt werden.
„Eine derart schwerwiegende Änderung der Integrations- und Flüchtlingspolitik des Landes bedarf notwendigerweise einer politischen Entscheidung der Landesregierung. Es kann nicht sein, dass hier durch eine geänderte Praxis auf Verwaltungsebene Fakten geschaffen werden und still und heimlich AnkER-Zentren eingerichtet werden“, betonte Scherenberg. „Wir erwarten von der Politik, dass sie zu den Verabredungen im Koalitionsvertrag steht und eine klare Entscheidung trifft, die im Gesetz weiterhin vorhandenen Spielräume für eine schnelle Zuweisung auf die Kommunen zu nutzen.“
„Integrationspolitisch ist eine so lange Verweildauer in Großlagern eine totale Katastrophe. Integration findet vor Ort statt und sollte möglichst früh beginnen. Wenn die Menschen jetzt erst einmal 18 Monate in der HEAE verbleiben und erst dann verteilt werden, ist dies sowohl für die Menschen, die davon betroffen sind, als auch für die Gesellschaft eine vergeudete Zeit“, erklärte Scherenberg abschließend in Frankfurt. „Und insbesondere für Familien mit Kindern ist auch der kürzere Zeitraum von sechs Monaten viel zu lang. Kinder sollten nur so kurz wie irgend möglich in Großlagern leben müssen und sollten so schnell wie möglich eine sichere Umgebung bekommen und normal zu Schule gehen können.“
Rechtlicher Hintergrund
Am 21.08. ist das von Flüchtlingsorganisationen nur als „Hau ab-Gesetz“ betitelte „Zweite Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht“ in Kraft getreten, mit dem eine ganze Reihe von Verschärfungen im Asyl- und Ausländerrecht eingeführt wurden. Darunter findet sich auch die Verlängerung des Aufenthaltes in der Erstaufnahme von sechs auf 18 Monate. Allerdings gelten die Regeln, nach denen eine vorzeitige Entlassung aus der Erstaufnahmeeinrichtung möglich ist, weiter fort. So heißt es in § 48 AsylG ausdrücklich, dass die Verpflichtung, in der Erstaufnahme zu wohnen endet, sobald die Betroffenen verpflichtet sind, an einem anderen Ort den Wohnsitz zu nehmen, also sobald eine Zuweisung auf eine Kommune erfolgt. Zu dem Schluss, es gäbe „keine rechtlich oder sachlich überzeugenden Gründe, die Aufenthaltszeiten von Menschen in Aufnahmeeinrichtungen auszuweiten“, kommt auch der Republikanische Anwältinnen- und Anwälteverein in einem Gutachten zu den Neuregelungen, welches dieser Presseerklärung beigefügt ist.