Liga der freien Wohlfahrtspflege Hessen und Hessischer Flüchtlingsrat stellen Forderungen an Innenminister Beuth zur IMK auf.
Wiesbaden/Frankfurt, 29.11.2021
Anlässlich der vom 01.-03.12.21 in Stuttgart tagenden Innenminister*innenkonferenz (IMK) appellieren die Liga Hessen und der Hessische Flüchtlingsrat (HFR) an Innenminister Peter Beuth, ein Landesaufnahmeprogramm für die Angehörigen von in Hessen lebenden Afghan*innen aufzulegen und sich für aufenthaltsrechtliche Verbesserungen afghanischer Staatsangehöriger in Deutschland einzusetzen.
„Wir sind entsetzt angesichts der dramatischen humanitären und menschenrechtlichen Lage in Afghanistan“, konstatiert die Vorstandsvorsitzende der Liga Hessen, Dr. Yasmin Alinaghi.
„Tagtäglich erhalten die Mitarbeitenden in unseren Beratungsstellen Hilferufe verzweifelter Menschen, die ihre Angehörigen aus der Gefahr retten und sie nach Hessen holen wollen. Hier muss der Innenminister tätig werden und ein Landesaufnahmeprogramm auflegen.“
Unerträgliche Angst um Familienangehörige
Ein Beispiel für die vielen Anfragen ist das des 20-jährigen Herrn M., der vor sechs Jahren aus Afghanistan geflohen ist, nachdem sein Vater von den Taliban ermordet wurde. Kurz darauf verstarb seine Mutter. Sein minderjähriger Bruder ist jetzt in Kabul auf sich allein gestellt und wartet auf eine Gelegenheit, nach Pakistan zu gelangen.
Oder der Fall des Herrn S., der seit 2015 in Frankfurt lebt, vor vier Jahren einen Schutzstatus erhalten hat, hier den Realschulabschluss gemacht und kürzlich eine Ausbildung zum Pflegefachmann begonnen hat. Seine Mutter befindet sich mit seinen vier Geschwistern noch in Afghanistan – ohne männliche verwandte Begleitperson, ohne die sich Frauen dort nicht frei bewegen können. Nicht nur das Überleben der ganzen Familie steht auf dem Spiel, sondern seinen Schwestern droht zudem die Zwangsverheiratung. Für seinen Bruder befürchtet er die Zwangsrekrutierung durch die Taliban.
Hessen trägt Verantwortung für Angehörige hier lebender Afghan*innen
Ähnlich wie ihnen geht es Hunderten Familien allein in Hessen. Viele können aus Sorge um ihre Angehörigen nicht mehr schlafen oder zur Arbeit gehen. Für alle diese Hessinnen und Hessen würde ein Landesaufnahmeprogramm Hoffnung auf Rettung ihrer Angehörigen bedeuten.
„Hessen steht in der Verantwortung, diesen Menschen schnell und unbürokratisch eine konkrete Perspektive zu bieten und dafür jetzt die notwendigen Voraussetzungen zu schaffen“, unterstreicht Timmo Scherenberg, Geschäftsführer des Hessischen Flüchtlingsrates die Forderung nach einem Landesaufnahmeprogramm. „Angesichts des nun vorliegenden Koalitionsvertrages der Ampel-Koalition und der Ankündigung eines Bundesaufnahmeprogramms sind auch Verweise auf eine zu erwartende Blockade durch das Bundesinnenministerium (BMI) hinfällig. Von einer Zustimmung des künftig neu geführten BMI zu einer ergänzenden Landesaufnahme kann ausgegangen werden.“
Die Liga der Freien Wohlfahrtspflege hatte sich Anfang November schon mit einem Brief an die Landesregierung und die Fraktionen von CDU und Bündnis 90/Die Grünen gewandt und sich für ein Landesaufnahmeprogramm für diejenigen Schutzbedürftigen, die in die Nachbarländer flüchten konnten, eingesetzt.
Als Vorbild könnte das Landesaufnahmeprogramm für die Angehörigen von in Hessen lebenden Syrer*innen aus 2013 dienen, mit dem neben Ehepartner*innen und Kindern z. B. auch Großeltern und erwachsene Geschwister aufgenommen wurden. Die Aufnahme von Menschen, die es schon außer Landes geschafft haben, setzt explizit keine Verhandlungen mit den Taliban voraus, sondern lediglich Aufnahmezusagen für diese Personen.
Bundesaufnahmeprogramm für Gefährdete
Darüber hinaus soll sich Innenminister Beuth auch dafür einsetzen, dass die Bundesregierung die Ankündigung im Koalitionsvertrag zeitnah umsetzt, akut gefährdeten Personen in Afghanistan Aufnahmezusagen erteilt und ihre bereits gestarteten Bemühungen in den Verhandlungen mit den Taliban verstärkt, um Evakuierungen im notwendigen Umfang schnell zu ermöglichen. Die Anfang September geschlossene Liste für gefährdete Personen muss jetzt wieder geöffnet werden.
So z. B. für die ehemalige Staatsanwältin Frau F., die an der Verurteilung von Mitgliedern der Taliban und anderer radikal-islamistischer Gruppierungen beteiligt war. Seit der Machtübernahme der Taliban muss sie ständig ihren Wohnort und ihre Telefonnummer ändern. Vier ihrer Kolleg*innen erhielten – vermutlich – gefälschte E-Mails, mit denen ihnen Aufnahmezusagen und eine Evakuierung vorgetäuscht wurden. Auf dem angegebenen Weg zum Flughafen in Masar-e-Sharif wurden sie brutal ermordet.
Auch Frau F. hatte eine solche E-Mail bekommen, ist dieser aber nicht gefolgt, da sie die Taliban dahinter vermutete. Aus diesem Grund hat sie sich an eine Mitarbeiterin der Flüchtlingshilfe des regionalen diakonischen Werks Offenbach-Dreieich-Rodgau gewandt, um über das Auswärtige Amt eine Prüfung der Mail zu erbitten. Eine Antwort steht noch aus. Derzeit hält sie sich weiter versteckt.
Liga Hessen und HFR fordern Bleiberechtsregelung für geduldete Afghan*innen
Zudem braucht es dringend eine Lösung für die aufenthaltsrechtliche Situation der nur geduldeten, also formal ausreisepflichtigen Afghan*innen. Spätestens jetzt ist angezeigt, Geduldeten endlich einen sicheren Aufenthaltsstatus zu erteilen. Nach wie vor müssen sie alle drei Monate ihre Duldungen verlängern und jedes Ausbildungs- und Arbeitsangebot von der Ausländerbehörde genehmigen lassen. Neben der Sorge um ihre Angehörigen belastet dies die Betroffenen unnötig und behindert die Integration in die Gesellschaft.
„Hier muss die IMK dringend tätig werden und eine Bleiberechtsregelung nach § 23 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes für geduldete Afghan*innen beschließen, damit nicht Zehntausende erneut in jahrelange Asylverfahren gedrängt werden, sondern endlich eine sichere Perspektive in Deutschland erhalten“, erklärt Scherenberg.
Ansprechpersonen für Presseanfragen
Timmo Scherenberg, Geschäftsführer des Hessischen Flüchtlingsrates:
Mobil.: 0179-82 93 173 / E-Mail: hfr@fr-hessen.de
Hildegund Niebch, Mitglied des Liga-Arbeitskreises „Migration und Flucht“ / Diakonie Hessen:
Tel.: 069- 7947-6300 / Mobil: 0151-1212 7949 / E-Mail: hildegund.niebch@diakonie-hessen.de