In einem wichtigen Urteil vom 04. Oktober 2024 entschied der Europäische Gerichtshof (EuGH), dass die Situation von Frauen, die afghanische Staatsangehörige sind, eine Verfolgung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention bzw. der EU-Qualifikationsrichtlinie darstellt.
Aus dem Wortlaut des Urteils:
„Wenn man zum anderen annimmt, dass die diskriminierenden Maßnahmen gegen Frauen, die den Zugang zur Gesundheitsfürsorge, zum politischen Leben und zur Bildung sowie die Ausübung einer beruflichen oder sportlichen Tätigkeit einschränken, die Bewegungsfreiheit behindern oder die Freiheit, sich zu kleiden, beeinträchtigen, für sich genommen keine ausreichend schwerwiegende Verletzung eines Grundrechts im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2011/95 darstellen, beeinträchtigen diese Maßnahmen in ihrer Gesamtheit Frauen in einer Weise, dass sie den Schweregrad erreichen, der erforderlich ist, um eine Verfolgung im Sinne von Art. 9 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95 darzustellen. Wie der Generalanwalt in den Nrn. 56 bis 58 seiner Schlussanträge im Wesentlichen ausgeführt hat, führen diese Maßnahmen nämlich aufgrund ihrer kumulativen Wirkung und ihrer bewussten und systematischen Anwendung dazu, dass afghanischen Frauen in flagranter Weise hartnäckig aus Gründen ihres Geschlechts die mit der Menschenwürde verbundenen Grundrechte vorenthalten werden. Diese Maßnahmen zeugen von der Etablierung einer gesellschaftlichen Organisation, die auf einem System der Ausgrenzung und Unterdrückung beruht, in dem Frauen aus der Zivilgesellschaft ausgeschlossen werden und ihnen das Recht auf ein menschenwürdiges Alltagsleben in ihrem Herkunftsland verwehrt wird.“
Darüber hinaus stellt das Gericht fest, dass die Situation in Afghanistan für Frauen so systematisch und gravierend ist, dass von einer individuellen Prüfung des Asylantrags abgesehen werden kann. Die Mitgliedstaaten können im Asylverfahren pauschal davon ausgehen, dass eine Verfolgung besteht. In der Folge bedeutet dies, dass afghanischen Frauen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt werden muss. Wörtlich heißt es in dem Urteil:
„Im vorliegenden Fall kommt die EUAA in Punkt 3.15 ihres Berichts „Country Guidance: Afghanistan“ aus dem Januar 2023 zu dem Schluss, dass für afghanische Frauen und junge Mädchen angesichts der vom Taliban-Regime seit dem Jahr 2021 ergriffenen Maßnahmen im Allgemeinen eine begründete Furcht vor Verfolgungsmaßnahmen im Sinne von Art. 9 der Richtlinie 2011/95 bestehe. Auch weist das UNHCR im Kontext der vorliegenden Rechtssache in seiner am 25. Mai 2023 abgegebenen Erklärung zum Begriff der Verfolgung aufgrund einer Kumulierung von Maßnahmen im Hinblick auf die aktuelle Situation von Frauen und jungen Mädchen in Afghanistan darauf hin, dass bei afghanischen Frauen und jungen Mädchen wegen der von den Taliban allein aufgrund ihres Geschlechts gegen sie begangenen Verfolgungshandlungen die Vermutung einer Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bestehe.
Unter diesen Umständen können die zuständigen nationalen Behörden bei Anträgen auf internationalen Schutz, die von Frauen, die Staatsangehörige von Afghanistan sind, gestellt werden, davon ausgehen, dass es derzeit nicht erforderlich ist, bei der individuellen Prüfung der Situation einer Antragstellerin auf internationalen Schutz festzustellen, dass diese bei einer Rückkehr in ihr Herkunftsland tatsächlich und spezifisch Verfolgungshandlungen zu erleiden droht, sofern die Umstände hinsichtlich ihrer individuellen Lage wie ihre Staatsangehörigkeit oder ihr Geschlecht erwiesen sind.“
Die Rechtsprechung des EuGH ist bindend für die europäischen Mitgliedstaaten und hat daher auch Auswirkungen auf alle laufenden und künftigen Asylverfahren von afghanischen Frauen in Deutschland. Desweiteren ergibt sich dadurch für afghanische Staatsangehörige in Deutschland, die einen anderen Aufenthaltstitel besitzen oder deren Asylantrag (teilweise) abgelehnt wurde, die Möglichkeit, einen Asylantrag oder Asylfolgeantrag zu stellen. Für diejenigen mit subsidiärem Schutzstatus besteht diese Möglichkeit jedoch nur innerhalb einer Frist von drei Monaten nach Kenntnis der neuen Rechtslage.
Mehr Informationen zu dem Urteil und zu den Hintergründen finden Sie bei Pro Asyl.