Deutschland hat die Istanbul-Konvention mangelhaft umgesetzt. Weibliche Asylsuchende und ihre geschlechtsspezifischen Fluchtgründe werden kaum in den Blick genommen. Das offenbart eine Untersuchung von PRO ASYL, den Flüchtlingsräten und dem Institut für Kulturanthropologie der Universität Göttingen.
Vor wenigen Wochen kritisierten deutsche Politiker*innen, dass die Türkei aus der IstanbulKonvention ausgetreten ist, dem Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt. Was dabei aus dem Blickfeld gerät: Das Abkommen ist hierzulande zwar in Kraft, die Umsetzung jedoch mangelhaft.
Die Bundesrepublik hat sich dazu verpflichtet, Frauen vor allen Formen von Gewalt zu schützen, einen Beitrag zur Beseitigung ihrer Diskriminierung zu leisten sowie ihre Gleichstellung und ihre Rechte zu fördern. Geflüchtete Frauen und Mädchen sind in besonderer Weise von Gewalt bedroht und betroffen. Doch sie fallen in vielerlei Hinsicht durchs Raster – sei es bei der Erkennung der Vulnerabilität, im Bereich der Unterbringung, bei der Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Asylgründe oder wenn es um psychologische Beratung geht. Das ist das Ergebnis eines heute veröffentlichten Schattenberichts von PRO ASYL, des Hessischen Flüchtlingsrats und weiteren Partnern an ein Expertengremium des Europarats (Grevio), das die Einhaltung der Istanbul Konvention überwacht. Diese gilt in Deutschland wie ein Bundesgesetz – die Bundesregierung verletzt also mit der Nichteinhaltung des Abkommens ihre eigenen Gesetze.
Es beginnt bereits bei der Ankunft: Besonders gefährdete Schutzsuchende – sogenannte vulnerable Personen – werden als solche häufig gar nicht erkannt. Eine unmittelbare Folge ist, dass von Gewalt betroffene Frauen keine angemessene psychosoziale und medizinische Versorgung erhalten und kaum Unterstützung erfahren. Letztendlich droht auch, dass ihnen der nötige asylrechtliche Schutz versagt bleibt. Andrea Kothen von PRO ASYL: „Wir brauchen die bundesweite Einführung eines transparenten und flächendeckenden Identifizierungsverfahrens vulnerabler Personen. Nur wenn es hierfür ein einheitliches, verbindliches System gibt, kann in der Folge sichergestellt werden, dass die betroffenen Frauen ihre Rechte wahrnehmen können.“
Vergewaltigungen und Genitalverstümmelung als Fluchtgrund
Viele geflüchtete Frauen stammen aus patriarchal geprägten Gesellschaften oder aus Ländern, in denen sie aufgrund von Kriegs- und Krisensituationen besonders gefährdet sind. Ihre Fluchtgründe sind vielfältig: Genitalbeschneidung (FGM/C), straffrei bleibende Vergewaltigungen, Zwangsheiraten auch von minderjährigen Mädchen, häusliche Gewalt, Entführungen, Vergewaltigungen als Kriegswaffe und anderes. Der Anteil der Fälle, in denen Frauen aufgrund geschlechtsspezifischer Gründe Flüchtlingsschutz erhalten, müsste hoch sein – ist er aber nicht. Im Schattenbericht wird festgestellt: Etliche Frauen dürften durch die Raster einer nicht ausreichend sensibilisierten Asylstruktur fallen.
Selbst benannte geschlechtsspezifische Gewalt führt oft nicht zur Flüchtlings-Anerkennung. Gewalt an Frauen wird nach wie vor in den Asylverfahren nicht hinreichend thematisiert. Sie wird nicht selten im Bereich „privater Lebensführung“ verortet. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ist hier gefordert, zu einer verbesserten Anerkennungspraxis zu kommen. In den Anhörungen müssten Frauen aktiv, trauma- und gendersensibel ermutigt werden, von Gewalterfahrungen zu berichten.
Gewalt in Sammelunterkünften – Großunterkünfte gehören abgeschafft!
Ein großes Problem beim Thema Gewaltschutz bleibt die Unterbringung von Geflüchteten in großen Sammelunterkünften – trotz etlicher Versuche, die Situation zu verbessern. Die Angst vor Übergriffen durch männliche Bewohner, Security-Personal oder sonstige Angestellte gehören für viele Frauen zum Alltag – zum Beispiel, weil sie in vielen Unterkünften noch nicht einmal ihr Zimmer abschließen können. Fehlende Privatsphäre und die Abgelegenheit der Unterkünfte vergrößern diese Gefahr. „Gemeinschaftsunterkünfte erschweren effektiven Gewaltschutz nicht nur, sie sind an sich schon strukturell konflikt- und gewaltfördernd. Die Unterbringung in Erstaufnahmeeinrichtungen, die auch in Hessen inzwischen auf bis zu 18 Monate ausgeweitet wurde, muss deshalb dringend wieder auf ein Mindestmaß begrenzt werden. Auch in den Kommunen sollte vorrangig auf eine dezentrale Unterbringung in Privatwohnungen gesetzt werden. Langjährige Unterbringung in Großunterkünften gehört ein für alle Mal abgeschafft“, fordert Anna Hartnagel vom Hessischen Flüchtlingsrat.
In Deutschland ist also noch viel zu tun, um allen Frauen ein Leben in Sicherheit und Würde zu ermöglichen. „Insgesamt wird sichtbar, dass das Asyl- und Aufenthaltsrecht an vielen Stellen in einem eklatanten Widerspruch zum Gewaltschutz steht“, erklärt Prof. Dr. Sabine Hess vom Institut für Kulturanthropologie der Universität Göttingen, das den Schattenbericht mitverantwortet.
Dies gilt nicht nur für Deutschland: Die Bundesregierung sollte sich auch dafür einsetzen, dass „ein Europa frei von Gewalt gegen Frauen“, wie es in der Präambel der Konvention als Ziel formuliert ist, Realität wird. Dies erscheint nicht möglich ohne grundlegende Änderungen in der Europäischen Asylpolitik, für die Deutschland eine Mitverantwortung trägt.