Aufruf: Hessen braucht eine Integrationsoffensive!
Mit ihrem Aufruf fordern hessische Verbände und Initiativen eine zukunftsorientierte und humanitäre Migrations- und Flüchtlingspolitik angesichts des im November 2023 veröffentlichten Sondierungspapiers zwischen CDU und SPD Hessen und der enthaltenen Eckpunkte zu „Migration und Integration“. Sie atmeten fast ausschließlich den Geist von Desintegration und Restriktion statt auf positive Anreize zu setzen, so die Kritik. Darüber hinaus fehlten fördernde Vorhaben gesellschaftlicher und arbeitsmarktorientierter Integrationsangebote und -rechte.
Humanität ist die menschliche Seite von Demokratie und Rechtsstaat. Eine humane Flüchtlingspolitik ist eine Verpflichtung jedes demokratischen Rechtsstaates. Die Bundesrepublik Deutschland hat sich – nicht zuletzt aufgrund der Erfahrungen des Nationalsozialismus – durch das Grundgesetz, die Europäische Menschenrechtskonvention und die Genfer Flüchtlingskonvention zur Aufnahme von Schutzsuchenden verpflichtet. Diese Verpflichtung scheint gerade nicht nur in Vergessenheit zu geraten: Sie wird von politischen Verantwortungsträger*innen nahezu aller Parteien auf Bundes- und Länderebene mittlerweile sogar vorsätzlich in Frage gestellt.
Dem setzen die unterzeichnenden Organisationen ihren Aufruf für eine Integrationsoffensive entgegen. Statt Diskurse der Begrenzung und Entrechtung zu bedienen, fordern wir eine verantwortungsvolle Integrationspolitik von der nächsten hessischen Landesregierung, die völker- und menschenrechtliche Verpflichtungen nicht auszuhöhlen sucht, sondern die Menschenwürde und die Rechte aller in unserem Land lebenden Geflüchteten und Migrant*innen schützt – statt sie in Gefahr zu bringen. Für eine zukunftsorientierte Integrationspolitik geht es jetzt außerdem darum, das menschenrechtlich Gebotene mit dem (sozial-)wirtschaftlich Erforderlichen zusammenzubringen.
Die Unterzeichner sind überzeugt: Um seinen Wohlstand auch nur annähernd zu halten und zukunftsfähig zu werden, braucht Hessen deutlich mehr Zuwanderung in den Arbeitsmarkt sowie massive Investitionen in die öffentliche Infrastruktur. Von der nächsten hessischen Landesregierung erwarten wir daher, nicht mehr gegen Migrant*innen und Flüchtlinge und das unabhängige zivilgesellschaftliche Engagement zu agieren, sondern mit uns zusammen eine echte Integrationsoffensive zu starten.
Für eine solche Integrationsoffensive formulieren die Organisationen drei zentrale politische Handlungserfordernisse:
1. Arbeit und Aufenthalt fördern statt beenden
Weil die aktuelle Fachkräfteeinwanderung bei weitem nicht reicht, um den immensen Arbeitskräftebedarf in Wirtschaft, Sozialwirtschaft und öffentlicher Daseinsvorsorge auch nur annähernd zu decken, müssen dringend alle inländischen Potentiale gehoben werden. Dazu zählen nicht zuletzt in Hessen lebende Migrant*innen und Geflüchtete – auch ausreisepflichtige und geduldete Menschen. Ihnen so schnell, so leicht und so unbürokratisch wie möglich den Zugang zum Arbeitsmarkt und damit zur erfolgreichen gesellschaftlichen Integration zu gewähren, muss das zentrale Element der Migrations- und Integrationspolitik werden. Es ist darum jetzt höchste Zeit für eine „Integrationsoffensive“. Aggressive Verhinderungs- und Ausgrenzungsstrategien schaden allen, den motivierten zugewanderten Menschen genauso wie unserem Gesundheits- und Sozialwesen sowie der Wirtschaft. Monatelanges erzwungenes Nichtstun in der Erstaufnahme oder in neuen sogenannten Rückführungszentren richten enormen Schaden an. Jeder Mensch, der mittun kann und will, wird dringend gebraucht. Wir können und dürfen es uns nicht länger leisten, auch nur einen oder eine aus politisch-ideologischen Gründen zu verlieren. Oberste Priorität müssen Arbeitsförderung und Aufenthaltssicherung bekommen, nicht Aufenthaltsbeendigung.
2. Anreize stärken und attraktiver werden
Selbst wenn alle Schutzsuchenden und Ausreisepflichtigen inkl. Geduldeten, die bereits heute in Hessen leben, in Arbeit kämen, würde das nur einen kleinen Teil der Arbeitskräftelücken schließen. Wir brauchen also noch deutlich mehr Zuwanderung. Das gilt nicht nur für hoch Qualifizierte, sondern auch für gering Qualifizierte und hier über Ausbildung noch zu Qualifizierende. Um das zu erreichen, muss Hessen attraktiver werden. Mittlerweile zählt Deutschland für Fachkräfte aus dem Ausland zu den unattraktivsten Ländern weltweit (Platz 49 von 53 siehe Expat City Ranking 2023). Um diesen Trend umzukehren, müssen die tatsächlichen Anreize für Zuwanderung nicht etwa geschwächt, sondern dringend gestärkt werden. Ganz oben auf der Liste dieser Faktoren stehen Demokratie und die Garantie der Menschenrechte. Das bedeutet: Wenn Menschen mit vermeintlich falschem Aufenthaltsstatus in dieser Gesellschaft immer weiter entrechtet und ausgegrenzt werden, wird das vor allem die internationalen Fachkräfte abschrecken, die ihr Zielland frei wählen können. Alle gleichberechtigt zu behandeln und sie so schnell wie möglich zu integrieren, gebieten deshalb nicht nur Menschenwürde und Menschenrechte, es ist auch wirtschaftlich der klügste Weg zu einem zukunftsfähigen Hessen.
3. Öffentliche Infrastruktur ausbauen.
Nicht zuletzt braucht Hessen massive Investitionen in den Auf- und Ausbau der öffentlichen Infrastruktur, in bezahlbares Wohnen, Bildung, Mobilität, Gesundheitsfürsorge und andere Dimensionen der Daseinsvorsorge. Und das nicht etwa nur für geflüchtete Menschen, sondern für alle und perspektivisch auch für diejenigen, die hoffentlich in erheblicher Zahl noch kommen werden, um zusammen mit uns an einem zukunftsfähigen, demokratischen und an den Menschenrechten orientierten Hessen mitzuarbeiten. Zuwanderung für die Defizite im Bereich der öffentlichen, vor allem der Sozial- und Gesundheitsinfrastruktur verantwortlich zu machen, ist nicht nur sachlich falsch, es ist auch ein Beitrag zur Spaltung der Gesellschaft und zur Förderung von Extremismus. Die Defizite durch entschlossenes Handeln abzustellen, heißt dagegen, die solidarischen Kräfte im Land zu stärken und die Voraussetzungen für ein friedliches Zusammenleben in einer offenen und zukunftsorientierten Gesellschaft zu schaffen.
Von der nächsten hessischen Landesregierung erwarten wir deshalb, zusammen mit zivilgesellschaftlichen Akteuren eine Integrationsoffensive zu starten.
Dies bedeutet auch, dass zivilgesellschaftliche Akteure unabhängiger Integrationsarbeit gestärkt werden müssen – auch personell. Wir erwarten, dass die hessische Politik nicht länger gegen Geflüchtete und gegen Haupt- und Ehrenamtliche in der Flüchtlings- und Migrationsarbeit agiert. Vielmehr erwarten wir, dass dieses Land offener, attraktiver, vielfältiger und demokratischer gemacht wird. Um der Menschenrechte und des Wohlstands willen.
Die unterzeichnenden Organisationen sind: Diakonie Hessen, Parität Hessen, Hessischer Flüchtlingsrat, DGB Hessen-Thüringen, agah-Landesausländerbeirat, PRO ASYL, Frankfurter Rechtshilfekomitee für Ausländer, Respekt! Kein Platz für Rassismus, AWO Kreisverband Fulda, Verband binationaler Familien und Partnerschaften, AIDS-Hilfe Hessen